4 Parameter für agile Transformation
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Schlussfolgerungen aus erfolgreichen Praxisbeispielen
Immer mehr Unternehmen machen sich auf den Weg der Transformation hin zu einem agilen, kooperativen oder purpose-getriebenen Unternehmensstil. Die Freiräume (Un)Conference in Graz und die internationale Business Agility Conference (BAC) in Wien waren wunderbare Gelegenheiten, solche Unternehmen und deren Weg dorthin kennenzulernen. Auf beiden Konferenzen präsentierten Unternehmen ihre Erfahrungen aus durchlebten Transformationsprozessen und gaben so wertvolle Insights.
Transformationsprozesse aus der Praxis und deren Erfolge
Auch wenn die UnternehmensvertreterInnen klar stellten, dass ihr Transformationsweg nicht immer leicht war – unter anderem mit der Aussage „Es war ein Höllenritt“ – so lassen sie nach 1 ½ bis 2 Jahren absolut keinen Zweifel daran aufkommen, dass sich der Umbruch in der Art der Zusammenarbeit gelohnt hat. Dies sei an den folgenden Erfolgen exemplarisch gezeigt:
- Die Roche Diagnostics GmbH, Österreich, ist die Nummer 1 im Bereich der In-vitro-Diagnostik für die Erfassung und die Diagnose von Krankheiten. Dr. Uta-Maria Ohndorf, General Manager bei Roche Diagnostics, erzählte auf der BAC von gesteigerter Innovationskraft und Erhöhung des Marktanteils durch agile Transformation.
- Die Voxel Group, Spanien, ist Spezialist in der Digitalisierung von Zahlungsprozessen im Reisesektor. Àngel Garrido, CEO der spanischen Voxel Group, teilte ebenfalls auf der BAC seine Geschichte vom Start-up zu einem reifen Unternehmen und dem damit verbundenen agil-soziokratischen Wandelprozess. Das Unternehmen drohte nach Wachstum in den Abgrund zu stürzen. Nach der Transformation wurde Voxel 2018 als wettbewerbsfähigster Mittelbetrieb Kataloniens und 2019 als „Best Workplace“ in Spanien ausgezeichnet.
- S.I.E SOLUTIONS, Österreich, ist ein hochspezialisiertes High-Tech-Unternehmen im Bereich Embedded Computertechnologien und damit verbundenen Dienstleistungen. Siegfried Vogel, Organisationsentwickler bei S.I.E, und Jacqueline Hackbarth, verantwortlich für Human Ressources, berichteten auf den Grazer Freiräumen von Initiativbewerbungen und Anfragen von Unternehmen, welche die erfolgreichen Arbeitsmuster nach dem soziokratischen Wandelprozess von S.I.E kennenlernen wollen.
Parameter für erfolgreiche agil-soziokratische Transformation
Die Transformationswege dieser Unternehmen zeigen in all ihrer Verschiedenheit auch Gemeinsamkeiten. Nachfolgend vier Parameter, die für den Erfolg essentiell sind:
1. Mindset und Commitment der Unternehmensleitung
2. Geteilte Werte und Prinzipien
3. Unterstützende Architektur
4. Professionell begleiteter Prozess
1. Mindset und Commitment der Unternehmensleitung
Die Zielerreichung einer Transformation steht und fällt mit dem Mindset und Commitment der Unternehmensleitung. Die neue Leadership-Rolle muss verstanden werden.
- Das passende Mindset wurde auf der Business Agility Conference von Uta-Maria Ohndorf von Roche Diagnostics als DAS Schlüsselelement für agiles Leadership unterstrichen. Als Ausgangspunkt für den Transformationsprozess hatten sich alle Führungskräfte im Rahmen eines Leadership Trainings zuerst selbst auf einer Agilitäts-Skala einzuordnen, um dann an ihrem Mindset zu arbeiten.
- Bei Voxel war der Wandel ein Top-Down-Ansatz. Der Veränderungsimpuls ging direkt von der Unternehmensleitung aus, welche den agilen Geist der Anfangsphase, der durch Wachstum erstarrt schien, immer mehr vermisste und reaktivieren wollte.
- S.I.E hat Leaders Camps durchgeführt, um die Führungskräfte auf ihre neuen Rollen vorzubereiten und sie für die bevorstehenden Änderungen zu stärken.
Für eine agile und soziokratische Transformation ist ein offenes und kooperatives Mindset Voraussetzung. Es geht vor allen darum, dass die Menschen ihren Wahrnehmungs- und Verantwortungsraum erweitern können, und dass sie ihre Selbstwirksamkeit erkennen und einsetzen.
→ offenes und kooperatives Mindset ist Voraussetzung
2. Geteilte Werte und Prinzipien
Unabhängig von der Entwicklung einzelner Personen – den Führungskräften – braucht es eine gemeinsame Basis, Werte und Prinzipien, die von allen geteilt und akzeptiert werden.
- Zentrales Anliegen der Transformation bei Roche Diagnostics war die Wandlung von command and control hin zu Kollaboration und Innovation. Unter dem Motto shared values wurde das Prinzip der Stakeholderorientierung in die neue Unternehmenskultur eingeschrieben. Es geht dabei um eine konsequente Ausrichtung auf Kunden und andere Stakeholder-Gruppen, die den Blick nach draußen richtet, und fragt, was das Unternehmen für sein Umfeld und seine Stakeholder tun kann.
- Es war spannend zu hören, wie sich das anfangs agile Mindset der Start-up-Firma Voxel im Laufe des Wachstums verändert hatte. Regeln und Kontrolle wurden immer wichtiger. Es wurden Kontrollschichten eingebaut und Ziele vereinbart, die nicht gut abgestimmt waren. Um dieses Auseinanderlaufen wieder einzufangen, wurde eine kollaborative Initiative zur Definition von Schlüsselkompetenzen und gemeinsamen Werten gegründet. Das Ergebnis führte dazu, dass einzelne Menschen, welche die zentralen Werte nicht mittragen konnten, das Unternehmen verließen.
- S.I.E hat der soziokratischen Transformation einen ID-Prozess vorangestellt, über den Wertesysteme und Unternehmenskultur reflektiert und gemeinsam weiterentwickelt wurden. Trotz dieses ID-Prozesses war es eine Herausforderung, eine vertrauensvolle Arbeitsumgebung aufzubereiten, in der Ego und Machtspiele keinen Platz mehr finden. Im Rahmen der Soziokratie-Einführung war es in der Folge essentiell, die soziokratischen Basisprinzipien in den Köpfen und Herzen der Menschen zu verankern und als Handlungsrahmen zu etablieren. Durch diese Prinzipien wurde dynamische Selbststeuerung und kontinuierliche Verbesserung möglich. Die Menschen im Unternehmen bekamen durch Transparenz und funktionierende Informations- und Kommunikationsströme, die Möglichkeit, selbständig gute Entscheidungen zu treffen. So konnte die Engstelle für Entscheidungen, die vorher bei der Geschäftsleitung lag, beseitigt werden.
Gut abgestimmte Werte und Prinzipien sind dazu da, den Menschen im Unternehmen für ihre Entscheidungen und Handlungen Orientierung zu geben. Insbesondere in unsicheren Veränderungssituationen unterstützen anerkannte Prinzipien die Menschen dabei, sich aus ihrer Komfortzone zu bewegen und ihr Potenzial dem Prozess zur Verfügung zu stellen.
→ agile Werte und soziokratische Prinzipien geben Orientierung und Halt
3. Unterstützende Architektur
Um entlang von Werten und Prinzipien zu handeln, ist ein strukturgebender Rahmen gefragt, der Transparenz und ausreichende Freiheiten gewährleistet, damit sich das Unternehmen Schwarmintelligenz zunutze machen kann – oder anders ausgedrückt, damit sich ein Wolfsrudel in einen Vogelschwarm verwandeln kann.
- Für Roche Diagnositcs war die Architektur-Frage der schwierigste Aufgabenstellung. Scrum, das aus der Softwarentwicklung stammende Vorgehensmodell für agiles Projektmanagement, war dafür ein Anfang. Nachdem mit Scrum und agile Leadership gestartet worden war, ging es darum, über Scrum-Teams hinaus Kreise für eine transparente Schwarmarchitektur zu bauen.
- Voxel nutzte Patterns von Soziokratie 3.0 und orientierte sich beim Aufbau seiner soziokratischen Struktur an der kundenzentrierten Pfirsich-Organisation von Niels Pfläging. Den Leuten wurde vorab in sicherer Umgebung Methodenkompetenz vermittelt, damit sie die neuen Freiräume gut nutzen konnten. Die einzelnen Teams bzw. Kreise wurden über Objectives und Key Results (OKR) beauftragt. Àngel Garrido, CEO von Voxel, erklärt das mit folgendem Bild: „Das Team bekommt die Aufgabe, den Fluss zu überqueren. Es geht nicht darum, eine Brücke zu bauen. Es ist Sache des Teams, welche Lösung sie finden.“ Für einen funktionierenden und transparenten Informations- und Kommunikationsfluss wurden Leute aus anderen Abteilungen eingeladen und in cross-functional Teams gearbeitet. Für die Arbeitszyklen innerhalb der Teams wurde nach dem Plan-Do-Check-Act-Kreislauf vorgegangen, um Prozesse in Iterationen zu verbessern. In Summe hat sich die Situation um ein Vielfaches verbessert. Jetzt präsentiert sich Voxel mit hoch produktiven Teams, mit nachhaltig verbesserter Kommunikation und gesteigertem Engagement der Mitarbeiter.
- S.I.E bildete ein Wandelforum, das für den Prozess der Transformation verantwortlich war. Bei der Zusammensetzung dieses Forums wurde darauf geachtet, dass darin alle Bereiche des Unternehmens vertreten waren, dass also cross-funktional gedacht und gearbeitet werden konnte. Bei der Definition der soziokratischen Kreisstruktur wurde das Viable System Model (VSM) von Stafford Beer als Vorbild genommen. So wurde gewährleistet, dass sich nun nicht nur das aktuelle Geschäft laufend verbessert, sondern dass auch für große Innovationen und Zukunftsstrategien ein guter Platz in der Organisation geschaffen wurde. Nach 1,5 Jahren Soziokratie hat sich S.I.E bereits zweimal fundamental neu erfunden und in ein fluides Kreissystem entwickelt. Wenn die aktuellen Strukturen nicht mehr passen, können diese adaptiert oder völlig neu definiert werden – und zwar selbstorganisiert von bottom-up.
Es ist also das Kunststück zu vollbringen, die organisationale Architektur flexibel und gleichzeitig rahmengebend zu gestalten. Lebendige Kreisstrukturen, die netzwerkartig verbunden sind, scheinen diesem Erfordernis gut zu dienen.
→ Flexible Kreisstrukturen und dynamische, selbstlernende Prozesse unterstützen innovative Unternehmen
4. Professionell begleiteter Prozess
Der Weg zu einem gelebten agilen Mindset, zu allseits geteilten Prinzipien und einer passenden Architekur ist ein tiefgreifender Transformationsprozess.
- Dieser Transformationsweg ist kein Spaziergang. Das bestätigt Uta-Maria Ohndorf, General Manager von Roche Diagnostics, indem sie klarstellt, dass so ein Prozess eine Investition ist, die kurzfristig kostet. Sie führt aber weiter aus, dass es eine lohnende Investition ist, die das Produkt verbessert und langfristig Gewinn bringt. Als besondere Herausforderung nennt sie den Status einer 2-Speed-Organisation, in der während des Prozesses agil und nicht-agil parallel bestehen.
- Voxels CEO Àngel Garrido und sein Führungsteam suchten neue Frameworks und starteten mit dem Lesen von Büchern. Sie fanden bald heraus, dass das nicht ausreichend ist. Das Unternehmen ließ sich vom einem erfahrenen Consultant durch den Prozess begleiten. An den Anfang stellten sie eine Unternehmensanalyse, um vom aktuellen Stand ausgehend die Entwicklungsfelder sichtbar zu machen. Voxels Erfahrung zeigt darüber hinaus, dass es auch intern Personen braucht, die für die Transformationsziele brennen und dafür in der Organisation rennen.
- Der Transformationsprozess von S.I.E wurde ebenfalls von externen ExpertInnen und internen Wandelagenten begleitet. BeraterInnen des Soziokratie Zentrums Österreich haben im bereits beschriebenen Wandelforum intensiv mit den internen Wandelagenten zusammengearbeitet. Es wurden inzwischen sogar drei Personen als interne Soziokratie-TrainerInnen ausgebildet, um im Unternehmen die neuen Werte und die soziokratischen Prinzipien langfristig zu verankern.
Dieser Weg der Veränderung mit all seinen Phasen will professionell begleitet und geleitet sein. Ein entscheidender Erfolgsfaktor dabei ist ein enges Zusammenspiel zwischen externen ExpertInnen und internen Change Agents.
→ Transformationsteam mit externen und internen ExpertInnen besetzen
Mehr zu agiler Praxis
- Blogartikel zu »Inner Work«
- Blogartikel »Soziokratie: Best Practice und Inspiration«
- Blogartikel »Reinventing Organization in der Praxis«
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